Das muss man doch sagen dürfen: Spätestens wenn dieser Satz fällt, ist in Diskussionen über Israel in der Regel das Ende des Erkenntnisfortschritts erreicht. Geäußert wird er zumeist im Anschluss an Äußerungen, die israelische Regierungspolitik und/oder Staatsräson kritisieren. Als bedürften solche Äußerungen gleichsam Geleitschutz. Als müsse man ihnen den Raum, auf dem sie existieren, erst postulativ abstecken und absichern. Als gebe es da etwas, das sonst diesen Raum zusammendrückt und alles darauf erstickt.
Das, was da angeblich so bedrückend und erstickend auf die Meinungsfreiheit wirkt, ist der Antisemitismusvorwurf.
Heute hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Kammerurteil veröffentlicht, wonach es mit der Meinungsfreiheit kein Problem gibt, wenn ein Israelkritiker einer jüdischen Organisation, die diesen Vorwurf erhebt, denselben kurzerhand verbieten lässt.
Israel et l’Autre
Der Fall spielt in Genf. Dort hatte ein Politikprofessor in einem Buch unter dem Titel “Israel et l’Autre” folgende Sätze geschrieben:
Dadurch, dass Israel sehr bewusst zu einem jüdischen Staat geworden ist, hat es sich die vereinte Last all jener Fragen auf die Schultern geladen, die die jüdische Grundfrage explizit machen. (…) Die Identifikation von Israel mit dem Judentum verdoppelt jede politische, diplomatische und militärische Aktivität in einen Test, in eine Versetzungsprüfung für das Judentum. Sehen wir also (…). Unter diesen Bedingungen ist es vollkommen vergeblich, Israel wie irgendeinen anderen Staat zu betrachten: Seine Hände sind gebunden von der Definition, die es selbst sich gegeben hat. Wenn Israel sich auf der internationalen Bühne exponiert, dann es es das Judentum, das sich gleichzeitig exponiert.
(…)
Auch im politischen Bereich gibt es wenig derartig eindrucksvolle Beispiele aktiver Präsenz auf allen Ebenen eines starken und interventionistischen Staates wie der Staat Israel es ist, ein Staat, der so vollständig die Moral der “schmutzigen Hände” annimmt (vor allem die Abriegelung von Territorien, die Zerstörung ziviler Gebäude, die gezielte Ermordung mutmaßlich verantwortlicher Terroristen), im Interesse der Sicherheit seiner Bürger (Übersetzung – laienhaft – aus dem Französischen von mir).
Diese Sätze nahm eine Genfer Organisation namens CICAD zum Anlass, dem Politologen (der offenbar selbst über seine Mutter jüdischer Herkunft ist) vorzuwerfen, “unumwunden in Richtung Antisemitismus abzugleiten”. Dieser klagte und bekam durch drei Instanzen bis hinauf zum Bundesgericht Recht: Zwar seien Werturteile keinem Wahrheitsbeweis zugänglich, aber dennoch nach “anerkannten Kriterien” zu beurteilen, deren Verletzung ein solches Werturteil unzulässig mache. Der Autor habe sich mitnichten antisemitisch geäußert, und zwar auch dann nicht, wenn man unter Antisemitismus nicht nur offene Beschimpfung von Juden versteht, sondern nach der Definition der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auch subtilere Spielarten erfasst – etwa die Juden insgesamt für das Handeln Israels verantwortlich zu machen, oder Israel nach einem strengeren Maßstab zu beurteilen als andere demokratische Nationen. Beides habe der Autor erkennbar nicht getan, und deshalb sei die Behauptung, er habe sich antisemitisch geäußert, als Verletzung seines Persönlichkeitsrechtes zu verbieten.
CICAD sah das überhaupt nicht ein und zog nach Straßburg, wo bekanntlich sogar Genozidleugner schon Schutz für ihr Recht erhalten haben, ihre Meinung frei zu äußern.
In diesem Fall konnte der Gerichtshof indessen in den Erwägungen der Schweizer Justiz keinen Fehler finden. Das Bundesgericht habe zu Recht befunden, dass dem Werturteil des Antisemitismus im konkreten Fall jede Faktengrundlage fehle. Zwar sei nur unter extrem engen Voraussetzungen erlaubt, in politische Debatten wie die um den Nahostkonflikt mit Redeverboten einzugreifen, aber die seien hier gegeben: Der Politologieprofessor habe nichts geschrieben, das “verletzend oder beleidigend für das jüdische Volk” sei. Es habe vielmehr den Anschein, dass CICAD den Gehalt seiner Worte übertrieben aufgeladen habe, um einen antisemitischen Sinn hineinlegen zu können.
Das, so der Gerichtshof weiter, sei auch deshalb besonders gravierend, weil nach schweizerischem Strafrecht rassistische Äußerungen strafbar sein können. Auch wenn CICAD eine solche strafrechtliche Relevanz niemals impliziert habe, mache dies den Vorwurf besonders toxisch.
Außerdem hätte CICAD auch die Technik ins Kalkül ziehen müssen, über die es den Vorwurf in die Welt gesetzt hat, nämlich das Internet. Das, so der Gerichtshof, könne ja dann über eine bloße Google-Recherche jeder lesen, und nicht nur die paar Abonnenten ihres Newsletters.
Schließlich findet der Gerichtshof auch in punkto Verhältnismäßigkeit nichts an dem Verbot auszusetzen. Von Zensur könne keine Rede sein, weil CICAD nicht gehindert werde, “seine Meinung betreffend den Staat Israel kundzutun und seine satzungsgemäßen Ziele zu verfolgen”. Auch sei die Sanktion, die gegen CICAD verhängt wurde, nur zivilrechtlicher und nicht strafrechtlicher Natur und daher nicht so schlimm.
Das muss man sagen dürfen
Wenn es um Meinungsfreiheit geht in Straßburg, muss man öfter mal ein bisschen den Atem anhalten, und so geht es mir auch hier.
Ich will mich überhaupt nicht in eine Diskussion verstricken lassen, ob man nun die Passage des Genfer Politologen antisemitisch interpretieren kann oder nicht, und was genau, und gemäß welcher Definition. Ich weiß aber – abstrakt gesprochen – jedenfalls so viel über den Antisemitismus, dass Antisemiten sich selbst oft lautersten Herzens als vollkommen immun gegen Antisemitismus wähnen (“Ich finde Juden ganz toll, weil sie so intelligent und erfolgreich sind!”). So wie sich Sexisten immun gegen Sexismus wähnen (“Ich liebe Frauen, kriege gar nicht genug von ihnen!”) und Rassisten gegen Rassismus (“Im Urlaub hatten wir einen rabenschwarzen Kellner, der war ganz reizend, so gute Manieren hatte der!”). Es ist geradezu kennzeichnend für diskriminierendes Reden, dass man sich so gemütlich und normal und freundlich und breit dabei fühlt beim sich Äußern, dass man überhaupt nicht mitbekommt, wie man dabei von der anderen, von der diskriminierten Seite aus betrachtet aussieht.
Was ich damit sagen will, ist nicht, dass ich CICAD in ihrem Urteil im konkreten Fall Recht gebe, sondern dass es nicht so einfach ist, ein Werturteil wie Antisemitismus neben die vorgefundene Faktenlage zu halten und zu sagen, stimmt oder stimmt nicht. Eine Äußerung antisemitisch zu finden, ist keine Subsumption eines Sachverhalts unter bestimmte Tatbestandsmerkmale, sondern ein Ausschlagen einer aus einem Diskriminierungskontext entstandenen Schmerznadel. Und es ist oft gerade diese blöde, freundliche, normale Blindheit des Äußernden gegenüber diesem Diskriminierungskontext, in dem er sich äußert, die diese Ausschläge der Schmerznadel provoziert.
Und gerade deshalb muss ich mit dem Äußernden streiten dürfen. Ich muss ihm, der da so brunzgemütlich über Juden oder sonst wen daherfabuliert, klar machen können, dass bei mir alle Nadeln verrückt spielen, wenn ich so etwas höre. Oh, er meint das gar nicht antisemitisch? Keine Spur von Blindheit, er hat diesen Kontext genau reflektiert und kommt trotzdem zu den besagten Schlüssen und kann die gewählten Formulierungen trotzdem gut begründen? Fein. Genau darüber können wir dann ja streiten. Aber das können wir nicht, wenn er mir die Aussage, dass meine Nadeln ausschlagen, von vornherein gerichtlich verbieten lässt.
Das gilt auch und besonders für Israelkritik. Es gibt abstrakt 5000 zwingend gute Gründe, sich über Netanjahu und Lieberman, über die Diskriminierung der arabischstämmigen Israelis und das Los der Bewohner der besetzten Gebiete zu empören. Aber bevor ich das konkret tue, bin ich gehalten, sehr sorgfältig zu reflektieren, als wer ich das tue und warum, mit welchen Worten und mit welchen Gefühlen und mit welchen Motiven. Ich muss mich befragt haben, ob mir vielleicht die Untaten der Israelis auch deshalb besonders skandalös erscheinen, weil ich mich dann als Deutscher beim Anprangern umso besser fühle, oder auch nur als christlicher Europäer. Ich muss mich auseinandergesetzt haben mit dem Resonanzboden, der ins Schwingen gerät, wenn ich bestimmte Sprachbilder verwende und bestimmte historische Parallelen ziehe, und auch mit der Frage, aus welchen Gründen die mir überhaupt in the first place einfallen. All das muss ich gründlich reflektiert haben, bevor ich mich aufrege. Und dann, und nur dann, brauche ich auch keine Angst zu haben, wenn mich jemand des Antisemitismus bezichtigt. Denn dann, und nur dann, habe ich eine Antwort darauf. Und kann mich streiten, und wenn hinter dem Antisemitismusvorwurf nur die Absicht steckt, sich gegen Kritik zu immunisieren, dann kann ich diesen Streit gewinnen.
Und wenn nicht? Dann werde ich den Vorwurf wohl aushalten müssen.
Denn das muss man sagen dürfen.
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